1. Die Anfänge
Wenn wir heute verstehen wollen, warum es überhaupt einen Krankenpflegeverein gibt, so müssen wir zuerst einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen. Die sozialen Umstände und Voraussetzungen in der damaligen Zeit unterschieden sich ganz wesentlich von unseren heutigen.
· Die Lebenserwartung lag im Durchschnitt bei knapp 50 Jahren. Heute liegt sie bei ungefähr 76 Jahren. Dieses relativ geringe Durchschnittsalter war zum großen Teil auf die hohe Kindersterblichkeit zurückzuführen. Jedes vierte bis fünfte Kind starb noch im Säuglingsalter. Außerdem wurden die Menschen nicht so häufig so alt, wie sie es heute werden. Ein Lebensalter von 90 Jahren war eine große Besonderheit.
· Die wichtigsten Todesursachen waren die Infektionskrankheiten. Sie haben nicht nur alte Menschen hinweggerafft, sondern Menschen jeden Lebensalters. An erster Stelle stand die Tuberkulose oder Schwindsucht. Eine Therapie gab es zu dieser Zeit noch nicht. Sogenannte Zivilisationskrankheiten, wie Bluthochdruck, Zuckerkrankheit und Herz-Kreislauf-Krankheiten, waren eher selten, ebenso Krebskrankheiten.
· Die soziale Absicherung war sehr bescheiden. Nicht überall gab es eine Großfamilie, die einspringen konnte, wenn die Mutter krank wurde oder wegen der Geburt eines neuen Familienmitglieds ausfiel. Der Haushalt musste weiter besorgt werden und der Ehemann durfte nicht von der Arbeit fern bleiben. Dies galt für den Arbeitsplatz in Handwerk und Gewerbe wie auch für die eigene Landwirtschaft. Ein Anspruch auf Urlaubs- oder Pflegezeit, wie heute, bestand nicht. Abgesehen davon hätte kaum ein Mann die Haushaltsführung übernehmen können oder wollen; es gehörte einfach nicht zu seinen Aufgaben und er hatte keinerlei Erfahrung darin. Die Familien waren kinderreicher, jede Frau gebar im Durchschnitt vier Kinder!
Diese Gründe bewogen vermutlich Bürgermeister, Pfarrer, Ärzte
und Industrielle, den Verein 1903 zu gründen und zu fördern.
Zu Zeit der Gründung unseres Krankenpflegevereins ging es weniger die lang dauernde Pflege alter Menschen, sondern
die kurzzeitige Pflege von kranken Menschen jeden Alters bzw. die Unterstützung von Familien.
Trotz fortschreitender Industrialisierung war die Familienbindung stärker als heute. Sehr viele Menschen arbeiteten noch in der Landwirtschaft. Der Sohn erbte vom Vater das Land und führte den Hof weiter. Die Pflege der Eltern oder anderer alter Familienmitglieder konnte zumindestens noch hier in der Großfamilie stattfinden. Die Wohnverhältnisse in ländlichen Gebieten boten dazu die Möglichkeit, auch wenn sie beengt waren. Nur wenige konnten sich Dienstpersonal für den Haushalt leisten.
Wenn keine Angehörigen zur Hilfe bereit standen, konnte der KPV mit seinen Schwestern einspringen.
Der KPV entsprach einem Verein auf Gegenseitigkeit. Die Mitglieder standen mit ihren Beiträgen füreinander ein. Die vom Verein eingestellten und bezahlten Schwestern – es wurden im Laufe der Jahre vier – arbeiteten selbstlos für einen nur geringen Lohn. So konnten mit überschaubaren Beiträgen Pflege und Haushaltsführung geleistet werden. Der „Nutzen“ für jedes der Mitglieder war offensichtlich.
2.
Der Verein entwickelt sich
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Die Idee, einen Krankenpflegeverein zu gründen, hat ihre Wurzeln zweifellos auch in dem Gedanken der christlichen Nächstenliebe. Das Bild des barmherzigen Samariters (Lukas 10,30), der uneigennützig seinen hilflos gewordenen Nächsten unterstützt, mag dabei Vorbild gewesen sein. Ausschließlich dieses Bild auf den Krankenpflegeverein anzuwenden, wäre aber zu sehr eine romantische Idealisierung. Der Erfolg des Krankenpflegevereins – ablesbar in seinem Wachstum – ist nicht verstehbar ohne den möglichen unmittelbaren Nutzen, den er jedem seiner Mitglieder versprach.
Früher war es fast selbstverständlich, dass man als Evangelischer Mitglied im KPV war, so wie man zu seiner Kirchengemeinde gehörte. Der Pfarrer sorgte bei sich bietenden Gelegenheiten – z.B. beim Traugespräch – für den Beitritt neuer Mitglieder. So wuchs der Verein 30 Jahre lang.
1933, in der Zeit des Nationalsozialismus, kam dss Vereinsleben praktisch zum Erliegen. Der Verein existierte zwar formal weiter, konnte aber nicht aktiv werden und auch keine neuen Mitglieder werben.
Nach zwölfjährigem Ruhen der Tätigkeit konnte der Verein ab 1945 wieder aktiv werden. Er erreichte im Jahr 1998 seinen Wachstums-Höhepunkt mit 3000 Mitgliedern.
Die wirtschaftliche Entwicklung, neue Erkenntnisse in der Medizin und gesellschaftliche Veränderungen ließen und lassen den Verein nicht unberührt.
· Schon bald nach dem Krieg begann der allgemeine Wohlstand zu steigen. Eine reichere und üppigere
Ernährung, eine bessere Wohnung, Urlaub mit Reisen, ein Auto werden selbstverständlich. Die Lebensbedingungen in hygienischer und medizinischer Sicht besserten sich ebenfalls. Die
Lebenserwartung steigt bis heute weiter an.
· Mit zunehmendem Wohlstand und größerer Lebenserwartung wächst der Anteil der sogenanntenZivilisations- und
Alterskrankheiten. Besonders häufig sind Herz-Kreislauf-Krankheiten, die Hochdruckkrankheit (Hypertonie), Zuckerkrankheit (Diabetes), Atemwegskrankheiten und Krebserkrankungen.
Zusätzlich kommen mit zunehmendem Alter sogenannte degenerative oder „Verschleiß“-Krankheiten des Bewegungsapparates (Arthrosen, Krankheiten der Wirbelsäule) und des Gehirns (Demenz,
ALZHEIMER-Krankheit) hinzu.
Im höheren Alter steigt die Wahrscheinlichkeit an, dass mehrere Krankheiten zusammen auftreten. Diese Krankheiten sind zwar für eine lange Zeit medizinisch und pflegerisch beherrschbar, erschweren
aber die selbstständige Lebensführung. Der alte Mensch braucht Hilfe, um so mehr, je älter er wird.
· Der allgemeine Wohlstand hat noch weitere gravierende Folgen: Dem Babyboom der Nachkriegszeit folgt in den sechziger Jahren der Pillenknick. Die nach dem Krieg geborenen
Jahrgänge waren zahlenmäßig stark. Die Familien werden seit 40 Jahren immer kleiner und hat heute im statistischen Durchschnitt kaum mehr 1,3 Kinder.
Für die eigene Lebensplanung mag dies genug sein. Für die die Entwicklung der Bevölkerung ist derdemographische Wandel jedoch bedenklich
und für die zukünftige Finanzierung der Renten ist er eine Katastrophe. Mancher mag es nicht so schlimm finden, wenn die Bevölkerungszahl kleiner wird. Wir leben in einem dicht besiedelten Land. Aber
das Verhältnis zwischen Jungen und Alten verschiebt sich weiter zu Gunsten der Alten. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte aufkommen. Das betrifft die Finanzierung der Renten. Das betrifft
auch die Pflege alter Menschen. Dafür werden zukünftig mehr ausgebildete Kräfte gebraucht. Diese wollen bezahlt werden; die Kosten für die Pflege werden daher in Zukunft stärker ansteigen als das
allgemeine Einkommen.
Die gesetzliche Pflegeversicherung soll hierbei helfen. Aber sie ist sehr knapp
kalkuliert und kann die Pflegekosten nicht vollständig decken; Zuzahlung ist erforderlich. Der zeitlichen Vorgaben des Leistungskatalogs für ambulante Pflege sind wegen der hohen Personalkosten
so bemessen, dass gerade nur die notwendigsten Pflegeleistungen darin erbracht werden können. Der Pflegebedürftige braucht aber auch menschliche Zuwendung; „satt und sauber“ als Pflegeziel
reichen deshalb nichtaus.
3. Die Stellung heute
Viele Krankenpflegevereine sehen ihre neuen Aufgaben nicht mehr in der Pflege selbst. Die meisten können dies heute wegen des
damit verbundenen Aufwands nicht mehr leisten. Aber sie können die professionell arbeitenden Pflegeeinrichtungen, in Sindelfingen die ökumenische
Sozialstation, über die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung hinaus unterstützen.
Im Jahre 1998, als der Höchststand in der Zahl der Mitglieder erreicht war, hatten sich schon einige Voraussetzungen grundlegend
geändert, die die Entwicklung des Vereins bis heute nachhaltig beeinflussen. Die religiösen Bindungen lockern sich. Das hat auch Rückwirkungen auf kirchennahe Vereinigungen.
Zwei Ereignisse sind es, die Einfluss auf die Mitgliederentwicklung genommen haben:
Viele fragen sich heute, warum sie denn noch in einem solchen Verein bleiben oder gar neu eintreten sollen. Man könnte meinen, die
Krankenpflegevereine haben sich überlebt und die Zeit sei darüber hinweg gegangen. Die Krankenpflegevereine sind außerdem gemeinnützige Vereine. Die Gemeinnützigkeit ist Voraussetzung dafür, dass Beiträge und Spenden steuerlich abgesetzt werden
können.
Die Gemeinnützigkeit des Vereins führt allerdings dazu, dass die eigenen Mitglieder keinen direkten Vorteil aus der Mitgliedschaft ziehen dürfen. Der Krankenpflegeverein darf heute keine
"Versicherung auf Gegenseitigkeit" mehr sein. Er fördert die ökumenische Sozialstation, die für alle da ist. Nutznießer sind daher alle, die die Leistung der Sozialstation in Anspruch nehmen,
unabhängig davon, ob sie Vereinsmitglied sind oder nicht. Das gilt auch für die vier anderen Krankenpflegevereine in Sindelfingen und Magstadt.
Die ökumenische Sozialstation gewährt allerdings den Mitgliedern der Krankenpflegevereine einen Rabatt von 10 % in der Pflegestufe 0.
Die Krankenpflegevereine tragen zur wirtschaftlichen Absicherung der ökumenischen Sozialstation bei. Daraus erschließt sich der Sinn für die die Existenz der Vereine in der Gegenwart:
Dabei haben gerade alte pflegebedürftige Menschen häufig keine weitere Person, mit der sie sprechen oder einige Zeit des Tages verbringen können. Sie sehen dann nur die Pflegekraft, die ein oder zwei Mal am Tag vorbeikommt, um geschwind die notwendigen Arbeiten zu tun. Die Pflegekraft sollte aber gerade unter diesen Umständen etwas mehr Zeit für ihre Schützlinge haben. Sie sollte sich hinsetzen dürfen für ein Gespräch, sollte zuhören, einen Ratschlag geben, vielleicht auch ein Gebet sprechen oder einfach nur da sein können. Die Pflege soll nicht nur Abfertigung sein. Sie soll den Menschen mit seinem Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen mehr berücksichtigen.
Für diese zusätzlichen Leistungen, die Augenblicke über den knappen „gesetzlichen“ Pflegekontakt hinaus bezahlen die KPV einen großen Teil ihrer Einnahmen. Die Pflege soll damit im oben genannten Sinne menschlicher werden. Die Finanzierung dieser Leistung sehen die KPV deshalb als ihre wichtigste Aufgabe an
Die Knappheit der Mittel der gesetzlichen Pflegeversicherung wird in der Zukunft eher zunehmen. Beitragssteigerungen werden benötigt, um die zunehmende Zahl von Pflegefällen zu finanzieren. Um so wichtiger werden dann Einrichtungen auf freiwilliger Grundlage zur Unterstützung der Pflege sein.
Die Aufgabe der Krankenpflegevereine hat sich grundlegend gewandelt. Es ist nicht mehr das Angebot der
Pflege, welches sie ihren Mitgliedern machen. Heute ist es die Qualität der Pflege, für welche sich die Vereine einsetzen. Die Krankenpflegevereine in
Sindelfingen werden daher in Zukunft ihre Bedeutung haben. Sie sorgen für die finanzielle Sicherheit der Sozialstationen, die die eigentliche Pflege ausführen, und für die Erweiterung der Pflege
mit mehr menschlicher Zuwendung.
Dies können die Krankenpflegevereine jedoch nur leisten, wenn sie eine genügend große Anzahl von Mitgliedern haben.
Heute ist die Sozialstation der Träger der Pflegeleistungen. Die Sozialstation ist in der Lage, Aufgaben zu übernehmen, die für den Verein nicht mehr hätte tragen können. Die Pflege von alten Menschen ist in den Vordergrund gerückt. Diese Pflege zieht sich häufig über lange Zeit hin, zum Teil über Jahre. Deshalb hat die Zahl der Pflegekräfte stark zugenommen. Der Verein hat nie mehr als vier Schwestern beschäftigt. Die Sozialstation hat inzwischen über 200 Angestellte!
Dieser Wandel musste sich auch im Bewusstsein der Vereinsmitglieder vollziehen. Wer heute Mitglied ist, weiß, dass der Beitrag allen zugute kommt, die die Leistungen der Sozialstation in Anspruch nehmen. Natürlich auch ihm oder einem Angehörigen, wenn er pflegebedürftig werden sollte. Das Anrecht auf kostenlose Pflege für ein Mitglied ist aber nicht mehr einlösbar. Selbst steuerrechtlich würde eine direkte Finanzierung von Leistungen nur für die Mitglieder zum Verlust der Gemeinnützigkeit des Vereins führen. Die Mitglieder unterstützen mit ihren Beiträgen die Qualität der Arbeit und die Kontinuität der Arbeit der Sozialstation, die allen zugute kommt, die die Dienste der Sozialstation in Anspruch nehmen.
Die Mitglieder stehen dabei in einer in Deutschland guten Tradition. Wenn es auf der Welt Notfälle gibt, so sind es die Mitbürger hierzulande, die großzügig mit Spenden Hilfe leisten. Bei Dürren und Hungersnöten in Afrika, Erdbeben in Asien, Flüchtlingsnot, bei Überschwemmungskatastrophen im eigenen Land oder anderswo – die Spenden aus Deutschland fließen im allgemeinen reichlich; die Deutschen gelten hierbei als Weltmeister. Auch vor der Not im eigenen Land verschließt man die Augen nicht. Der Erfolg der lokalen Vereine, die sich um in Not geratene Mitmenschen kümmern, ist stetig. Viele geben regelmäßig feste Beiträge an Organisationen, die Hilfe in der Not irgendwo in der Welt leisten.
Bürgersinn ist eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Er kann nicht in allen Dingen durch den „Staat“ ersetzt werden, der dem einzelnen Bürger alle Daseinsvorsorge abnimmt und ihn auf den „Verbraucher“ reduziert. Bürgersinn bedeutet freiwillige Übernahme von Aufgaben und Verantwortung für das Gemeinwesen. Für die Mitglieder eines Fördervereins heißt dies, einen Beitrag zur Unterstützung von Menschen zu leisten, die Hilfe in der Pflege brauchen.
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Peter Michael Bittighofer